Freitag, 9. Januar 2009

Apocalypse Now


Nach sechs Tagen Paris und deren 13 in Freiburg melde ich nach schon wieder sechs Tagen Marseille zurück.
Minimalrekapitulation des letzten Monats: Paris war mittelmäßig. Das erste Mal, dass ich dort war und die Stadt nicht am liebsten umarmen wollte - so wie es sich als aufrechter Marseillais eben gehört. Vielleicht lag es aber auch ganz einfach am grauen Himmel und dem genauso wenig farbenfrohen Seminar, das im Wesentlichen im Zeitabsitzen am Tage und Rotweintrinken am Abend bestand. Highlights? Mein Zimmergenosse Abdelkader aus Reims, der fünfmal am Tag den Gebetsteppich gen Mekka richtete, ein Zeitzeugengespräch und meine Tätigkeit als Undercoveragent im Pariser Prinzenpark, wo Paris St. Germain 4:0 gegen Twente Enschede im UEFA-Pokal gewann. Sonst zum Abhaken. Mund abputzen, weitermachen, sagt der talentierte Kickrhetoriker.
Freiburg war schön. Sehr schön.
Von Colmar aus ging es nach Marseille aus zurück. Im Nachtzug und mit Judith. Nach gefühlten einhundert Minuten Schlaf dann zurück in der Cité Phocéenne, todmüde. Also erstmal schlafen angesagt. Dann für die nächsten Tage Touri-Programm - das Panier, der Vieux Port, die Canebière, die Bonne Mère und die Corniche. Das alles bei angenehmen 12° Celsius.













Zudem bin nach fast drei Wochen Abstinenz wieder als Werktätiger anzusehen. Als Werktätiger, der sich am Montag über gleich zwei (!) positive Bescheide der OFPRA an einem Tag (!!) freuen durfte. Deshalb viel in Zeichensprache agiert, weil Russisch und Georgisch bis jetzt nicht zu meinen Stärken gehören.
Der Plan für Mittwoch war der folgende: Aufstehen, runterfahren, weiterfahren, ankommen. Und zwar in Aix-en-Provence. Daraus wurde aber nichts, denn der himmlische Vater sah etwas anderes für uns vor: die Apokalypse! Zumindest bedeuten 30 cm Schneefall dies für das öffentliche Leben hier. Kein Bus, keine Straßenbahn, kein Verkehr, keine Flugzeuge, keine Züge, keine Schule, keine Arbeit, teilweise kein Strom und keine Metro - Marseille im Ausnahmezustand. Das Rathaus rät, zu Hause zu bleiben, auf gar keinen Fall das Auto zu benutzen. Zwar war das weiße Wunder seit mindestens 48 Stunden angekündigt, glauben wollte aber keiner daran. Was hätte es auch gebracht? Was im Norden selbstverständlich ist, scheint hier wie von einem fremden Stern: Schneeräumfahrzeuge oder Enteisungsgeneratoren für die Oberleitungen z.B.
So hat sich also die ganze Stadt zu Fuß auf den Weg gemacht, hat gestaunt, gelacht, geredet. Die Hauptstraßen wurde von rivalisierenden Gangs besetzt, die sich eine Salve Schnee nach der anderen um die Ohren schoss bzw. warf. Auch wir wurden Opfer eines hinterhältigen Drive-By-Attentats - ohne bleibende Schäden gottseidank.
Auf dem erneuten Weg zur Bonne Mère dann die ersten Treffen mit Snowboard- und Skifahrern, die ihren Höhepunkt auf dem steilen Boulevard hoch zur Kirche fanden: Eine zur Sprungschanze umfunktionierte Mülltonne mit einer johlenden Menge außenrum und vielen Verrückten, die nicht nur auf Ski und Schneebrett, sondern auch auf Surfboard und Fahhrad den Hügel herunterjagten. Ganz großes Tennis ohne jeden Zweifel.


Oben trotz Nebels ein Blick über die Stadt, den so wohl nur wenige zu sehen bekommen haben: Zwar stimmt die Beobachtung Anna Seghers' in "Transit" durchaus noch, dass die Stadt "kahl und weiß" sei - diesmal ist es bloß das Weiß des Schnees und nicht das der Häuserwände.

Schneefall in Marseille heißt wie gesagt auch Bus- und Zugausfall in Marseille. Also liefen wir an diesem Tag um die 25km, erst die knapp 7km von St. Julien in die Innenstadt, später das ganze wieder hoch und zwischendurch eben durch die ganze Stadt. Weil der gesamte Zugverkehr für die Region Provence-Alpes-Côte-d'Azur eingestellt war, musste Judith noch einen Tag länger bleiben als ursprünglich geplant, und weil auch gestern keine Busse fuhren, durfte ich einen Tag mehr frei machen als eigentlich vorgesehen. Die Anarchie hat wirklich ihre guten Seiten!

In diesem Sinne,

Euer Michail Alexandrowitsch Bakunin