Mittwoch, 29. Oktober 2008

Konzert, Kuhkampf und Kampfköter

Aus einem Tag sind sieben geworden, doch jetzt kommt die mit Sicherheit lang erwartete Fortsetzung von "Pastis, Pizza und Palaber", ebenfalls mit einer einmal mehr unglaublichen Alliteration à la BILD tituliert.
Reeewind! Ich war beim Vortrag Jean-Pierres stehen geblieben, bei dem fast nur Leute aus der Cimade anwesend waren, u.a. auch Youssef, der mich für den damals kommenden, inzwischen vergangenen Samstag einlud, seine Aufenthaltsgenehmigung zu feiern. Nachdem die Veranstaltung beendet war, machten wir - Sebastian aus Béziers und ich aus Marseille - uns in Richtung "La Joliette" auf, ein Viertel, das im Rahmen des Projekts "Euromediteranée" entstanden und vor lauter Kälte in den Straßen die pralle Sonne am Himmel (fast) vergessen lässt.
Weil wir ausreichend Zeit hatten, gingen wir zu Fuß, und weil ich noch nie in der Joliette war, verliefen wir uns. Eine Disziplin, in der ich inzwischen anerkannter Großmeister bin. So konnten wir aber auch die alten Ecken des Viertel sehen, die ihrem Aussehen und dem Müll in der Gosse nach zu schließen nicht unbedingt von der Bourgeoisie bewohnt werden.
Irgendwann und trotzdem immer noch zu früh, kamen wir an den Docks des Suds an, wo später Jazz-/Funk-Legende Herbie Hancock und Soul-Hoffnung Nneka auftreten sollten. Eigentlich ein Vergnügen, das meinen Hartz IV-Geldbeutel zumindest belasten würde, da das Fuchstum jedoch in meinen Genen nachweisbar ist, bezahlten wir jeweils nur 5 €, zumindest für die Tickets...
Das Festival erinnerte mich sehr an das ZMF, obschon es weder Zelte noch Bambinilauf gab, geschweige denn den gefürchteten Regen. Ganz im Gegenteil: Auch Mitte Oktober lässt sich hier ganz ausgezeichnet eine Open-Air-Veranstaltung durchführen, ohne dass man um seine Extremitäten bangen muss.
Die Bühne lag an einem nicht ganz gewöhnlichen Ort: Unter einer Autobahn-Passerelle, was überraschenderweise keinen negativen Einfluss auf den Sound hatte.

Nachdem Hancock sein Konzert mit seinem größten Hit Chameleon beendet hatte, zogen wir ein Bisschen über das überfüllte Gelände und endeten an einer seltsamen, umzäunten Manege. Ein provenzalischer Cowboy mit Hut und Akzent versuchte sich als FatmanScoop und brüllte allerlei Nichtaussagendendes in ein Mikrofon, das er zeitgleich anscheinend zu verschlingen suchte. Im Ring waren knapp zehn Jugendliche, die wohl allesamt einen auf dicke Hose machten, weil sie... Ja, weil sie einen Sport betreiben, dessen Namen ich nicht kenne, der aber offensichtlich traditionell Provenzalisch ist und bei dem es darum geht, einer jungen Kuh auf den Kopf zu hauen, ohne von dieser auf die Hörner genommen zu werden. Hört sich komisch an, is aber so.
Nach einigen Minuten wurde das arme Tier dann auch freigelassen, scharrte einige Male mit den Hufen und los ging die wilde Auf-den-Kopf-Hauen-und-Abhauen-Action. Nachdem vier Runden das Tier die berüchtigten Schläge auf den Hinterkopf abbekommen hatte, ohne sichtbar von einer Erhöhung des Denkvermögens zu profitieren und auch keinen der Dicke-Hose-Kerle erwischt hatte, wurden die Zuschauer aufgefordert, doch auch mal mitzumachen. Und da der gemeine Marseillais natürlich auch zeigen muss, wie dick seine Hose ist, war der Käfig auf einmal prall gefüllt mit Dicken, Kleinen, Baggyhosenträgern und sonstigen wenig kampferprobten. Die Kuh kam endlich auf ihre Kosten und durfte die Flüchtenden von der Funktionsweise ihrer Hörner überzeugen. Gottseidank.
Nach diesem überraschenden, für mich als Veggie vom Dienst natürlich nur schwer auszuhaltenden Kuhkampf ging es zum letzten Konzert des Abend - Nneka. Als diese versuchte, dem versammelten Franzosentum vor ihr etwas über die böse Welt, die natürlich nur Jah retten kann, zu übermitteln, dieses aber weiter gröhlte und klatschte, entschuldigte sie sich: "I know you don't understand me, I'm sorry that I don't speak French, but please listen." - Reaktion: Lauteres Gegröhle und Geklatsche. Gelernte Lektion: Vorurteile sind also doch fast immer wahr, so wie jenes über die Nichtbeherrschung der englischen Sprache seitens des Franzosen. Wunderbar diese Welt! So lässt sich's einfach leben.
Im Folgenden könnte ich eine halbe Stunde über das (quasi nicht-existente) öffentliche Verkehrsnetz Marseilles schreiben, ich lasse es aber. Es sei nur soviel gesagt: Weil es nach 0.30 war, mussten wir die knapp 10km von der Joliette nach St. Julien zu Fuß bestreiten. Eigentlich. Wir benutzten nämlich unseren Daumen, um die Füße zu schonen und probierten es mit der guten, alten Tramperei. Als Moralapostel Numero Uno konnte ich es natürlich nicht mit meinem Gewissen vereinbaren, einen dicken SUV um unsere Mitnahme zu bitten, zog meinen Daumen wieder ein und hoffte auf das - gerade in Frankreich - ja eh nie kommende solarbetriebende Gutmenschenmobil. Sebastian kannte da weniger Skrupel und hatte somit mehr Erfolg. Ein pakistanischer Restaurant-Besitzer nahm uns also in seinem Prollschlitten mit, der aber alsbald in einen Gangsterschuppen verwandelt werden sollte - denn was ist mehr Gangsta als 2Pacs "Hit 'em Up", das der mir urplötzlich äußerst sympathische Fahrer auflegte und mein Herz um drei Etagen höher schlagen ließ. So ging es also mit mind. 80 km/h die Avenue du 25 avril 1915 hinauf und an der Ampel fehlte nur noch das obligatorische Driveby, um mich vollkommen als O.G. zu fühlen. Abgesetzt direkt vor der Haustür und vollgepumpt mit Adrenalin ob des ereignisreichen Abends, ging es direkt in die Heia, die auch als Aufenthaltsort bis zum nächsten Mittag dienen sollte. Grade aufgestanden gab es auch schon ein großes Essen mit allerlei Freundinnen von Martine. Einer hatte ihren Sohn mitgebracht, der mich als Veteranen und Kenner mit seiner Playmobilsammlung kaum beeindrucken konnte. Für größere Hektik sorgte der anwesende und - wie sollte es auch anders sein - unglaublich hässliche Kampfhund, der nicht nur jedem Anwesenden auf den Schoß sabberte, sondern auch ein Auge auf CouCou und Yollande, unsere beiden Hühner, geworfen hatte. Sein Interesse galt jedoch nicht der Beteiligung an der Eierproduktion, vieleher wollte er diese durch einen gezielten Biss in den Hals der Gackernden verhindern. Ist aber nicht so weit gekommen durch den heldenhaften Einsatz einiger Gäste. Nachdem Sebastian noch zum Abschied einen TetraPak-Geldbeutel geschenkt bekam, fuhren wir in die Stadt runter, guckten uns das Stade Vélodrome von außen an (ich eine Woche darauf übrigens von innen) und fuhren auf der Corniche Richtung Zentrum und Bahnhof, wo ich ihn zum Zug brachte, der ihn nach Béziers fuhr.

Donnerstag, 23. Oktober 2008

Mal was Inhaltliches...

Hier ein Beitrag des Deutschlandfunks zur aktuellen Situation rund um die "centres de rétention". Mit sowas beschäftige ich mich also auch ab und an.

Mittwoch, 22. Oktober 2008

Pastis, Pizza und Palaber

Eine Rekapitulation des vergangenen, recht ereignisreichen Wochenendes:

Nachdem ich Freitagabend von der Arbeit heimgekehrt war, wandelte ich für eine knappe Stunde auf Otto Rehhagels Spuren und versuchte mich als technisch und taktisch versierter Anstreicher. Opfer war ein IKEA-Brett, das irgendwann einmal - insofern ich es denn schaffe, es an der Wand anzubringen - als Bücherregal dienen soll und da ich ja bekanntermaßen gelernter und v.a. talentierter Handwerker bin, war das Ganze natürlich ein Klacks für mich. Nun darf sich das gute Stück schon seit fünf Tagen ausruhen, bevor es in naher oder ferner Zukunft ans Kreuz geschlagen und somit seiner wahren Bestimmung zugeführt wird. Und wenn ich dann auch schon dabei bin, werde ich mich auch am ebenfalls neu gekauften Spiegel vergehen. Dieser ist nötig, weil ich meinen Bauch als Objekt der Betrachtung zwar auch durchaus spannend und natürlich äußerst attraktiv finde, für andere Körperteile wie bspw. den Kopf jedoch jegliche angebrachte Spiegel im Haus aufgrund Martines offensichtlich nur mäßigen Fruchtzwergekonsums während ihrer Kindheit schlichtweg zu niedrig und nur unter größten Belastungen für die geschundene Wirbelsäule auch als solche zu benutzen sind - zumindest für Wiehre-Öko-Markt-gestählte Weißwürste.
Nach der heldenhaften Pinseltat war mir nach Entspannung, die Terrasse schien mir der geeignete Ort, die Radioübertragung des SC-Spiels die geeignete Gelegenheit, der Pastis das geeignete Getränk. Günter Koch war dann auch ganz hin und weg von diesen Freiburgern, wollte anfangs mindestens Butscher, Bechmann und Jäger auf einmal heiraten, bevor er ab der 40. Minute urplötzlich die Scheidung einreichte und die Auswechslung der genannten drei forderte. Offensichtlich durcheinandergebracht von den Turbulenzen in ihrem Liebesleben, ging die Mannschaft dann in bekannter Auswärts-Art baden und verlor 2:0.
Gegen Ende der zweiten Halbzeit bekam ich allerdings eh nicht mehr allzu viel mit, denn Gilles, mein Nachbar mit dem Hardcore-Dialekt, hatte zu Hofe geladen, um seinen 45. Geburtstag zu feiern. Martine und ich gesellten uns hinzu und begaben uns in die Gesellschaft von sechs Mitvierzigern, die aber allesamt das Verhalten von 18-Jährigen an den Tag legten. So wurde über MSN mit drei verschiedenen Frauen gleichzeitig das nächste Date vereinbart, während die Meute im Hintergrund jauchzte und jubelte. Wenn Martines Bemerkung, an diesem Abend würde ich die Ur-Marseiller Lebensart kennenlernen, stimmt, dann muss dazu auch gehören: viel Pastis, Pizza und Palaber, wobei schwer zu entscheiden ist, ob der erste oder der letzte Punkt am größten geschrieben und am exzessivsten praktiziert wird.
Irgendwann wurden Bongos, Gitarre und Mikrofon ausgepackt und bis zum Umkippen betrommelt, bespielt, besungen. Den MC gab dabei Piero, Gilles engster Freund, der ob seiner Unkenntnis der Liedtexte lieber singend freestylte und für allerlei Lachkrämpfe bei den Umsitzenden sorgte.
Irgendwann suchte und fand ich dann den Weg in mein Bett und nach etwas kurzer Nacht fuhr ich Samstagmorgen in die Stadt runter, um Sebastian, den man unten auf dem Foto sehen kann, vom Bahnhof abzuholen. Nachdem wir die Protztreppen am Bahnhof, die zur Demonstration der Herrlichkeit der französischen Kolonialgeschichte gebaut wurden, hinter uns gelassen hatten, zeigte ich ihm ein wenig das Zentrum um die Canebière, bevor wir den langen, steinigen Weg ins traute St. Julien antraten.
Gestärkt von einem Mittagessen ging es aber recht bald schon wieder hinunter, weil wir eine Veranstaltung einer Organisation eines blinden kurdischen Flüchtlings aus dem Irak besuchten, bei der mein Chef Jean-Pierre einen Vortrag mit dem reizenden Titel "Vers une autre mondialisation: la question de l'intégration et le concept de la citoyenneté mondiale" hielt.

Von Konzert, Stierkampf und Kampfhund erzähl ich morgen in der Fortsetzung.

Dienstag, 21. Oktober 2008

Drei Fotos aus Sète

Um mein Hirn nach zwei 12-Stunden-Tagen etwas zu schonen, gibt's etwas für die Augen.


Der Strand in Sète, 30 Sekunden von meinem Bett entfernt und dementsprechend oft frequentiert während des Wochenendes


Auch der zwischenmenschliche Teil kam nicht zu kurz. Links Sebastian, der mich vergangenes Wochenende hier, in Marseille, besucht hat und in einem Flüchtlingswohnheim in Béziers bei Montpellier arbeitet.


So'n französischer Manu-Chao-Verschnitt, der beim "Amoureux au ban"-Konzert aufgetreten ist.

Frankreich ist auch nicht mehr das, was es einmal war: Morgen fällt auch noch mein freier Mittwoch weg und ich stehe doch tatsächlich kurz davor, eine 40-Stunden-Woche zu haben. Zeit für 'nen Streik.

Morgen gibt's Weltbewegendereres,

vom Youllian

Post scriptum: Nein, ich hab immer noch keine Kamera, die Bilder sind einmal mehr geklaut, dieses Mal von Sebastian, aber nicht dem auf dem Foto, sondern einem anderen, der ebenfalls bei der Cimade in der Nähe von Paris schaffe tun tut.

Montag, 13. Oktober 2008

Back again

Am Wochenende stand also die Jahresvollversammlung der Cimade in der Heimstadt Brassens', Sète, an und diese markiert einen weiteren Schritt zu meiner spirituellen Erleuchtung, denn zum dritten Mal innerhalb weniger Wochen wurde ich in einer christlichen Begegnungstätte untergebracht. Diese hatte allerdings den Vorteil, direkt am Meer zu liegen und gewinnt das Rennen somit in Usain-Bolt-Manier. Ob gedopt oder nicht, sei mal dahingestellt.
Nachdem wir trotz geplanter Picknick-Steuer ein ebensolches am Strand machten, ging es los mit dem Programm, das sich im Laufe der Tage als eher mittelprächtig herausstellte. Viel Gelaber um Kleinigkeiten, viel Gelaber, das ich nicht verstanden habe, wenig Gelaber, das mich interessiert hat. Aber gut, die Stimmung war trotzdem meist heiter und die Leute auch nett. Das Durchschnittsalter lag wohl bei mindestens 65 Jahren, aber rüstige (Früh-)Renter sind manchmal noch viel verrückter als man sich so vorstellen mag. So wurde der Wettbewerb, wer am öftesten baden geht, zu einem spannenden Zweikampf zwischen Bernadette und Yarmila - die ich beide aus Marseille kenne-, die jede Kaffeepause zur Flipper-Gedächtnisstunde ausdehnten. Da konnte ich nicht mithalten, denn es blieb bei einem einzigen Aufenthalt im Meer, der aber umso schöner geriet, da mich die aufgehende Sonne am Himmel dabei begleitete.
Den Alterschnitt enorm gesenkt habe nicht nur ich, sondern auch zwei andere deutsche Freiwillige, die in zwei Flüchtlingswohnheimen der Cimade arbeiten. War sehr angenehm mit den beiden, man konnte sich auch mal über Youri Djorkaeff und andere Legenden unterhalten und sich v.a. mal das ausdrücken, was man auch meint. Evtl. schon nächste Woche kommt einer der beiden mich hier besuchen und wir gehen auf ein Festival, wo u.a. Herbie Hancock und Nneka spielen. Vielleicht kann ich ja einmal ein paar Wochen in einem CADA (Centre d'Accueil des Demandeurs d'Asile) arbeiten, um auch diese Seite der französischen Asylpolitik näher kennenzulernen.
Highlight der drei Tage war mit Sicherheit ein Benefizkonzert für die Cimade-Kampagne der "Amoureux au ban public" in Montpellier. Und zwar kein Benefizkonzert, bei dem zehn aus Mitleid gekommene Zuschauer allenfalls bemühten Leuten auf der Bühne zugucken, sondern ein richtiges Konzert mit richtigen Künstlern, die vor knapp 4.500 Leuten spielten. Sechs Stunden gute Musik und mittelmäßiges Bier waren ein echter Knaller! Genauso die hier noch verbreitete Kulturtechnik des wilden Auf-den-Boden-Trampelns als Zeichen heller Begeisterung.
Unter den Strich kommt noch eine abgestaubte, wahnsinnig hässliche Mütze, die mir aber als Tarnkappe in U- oder Straßenbahn sicher noch gute Dienste leisten wird. Sie sieht einfach zu französisch aus.


Am heutigen Tage habe ich mir bloß ein Haus im Panier - dem Viertel am Alten Hafen, das Adolf mal teilweise spregen ließ - angeguckt, das nicht nur älteste Haus der Stadt ist und trotzdem besser aussieht als die meisten, sondern auch beim Wiederaufbau in den 50ern einfach mal lockerlässig um 90° gedreht wurde, so dass die einst eingravierten Straßennamen nun falsch sind. Ich klaue einfach mal ein Paar Bilder.



Det war's, jetzt geht's Tim & Struppi hören,

euer Doktor Bienlein

Dienstag, 7. Oktober 2008

Can't stop, won't stop...

und zwar die Streiklust der Franzosen. Heute war zwar nur ein Ministreik, weil es eine Großdemo gab, aber der Bus ist trotzdem nicht gefahren und ich bin den Großteil der 7km zur Arbeit gelaufen, nachdem Martine mich den ersten Teil mitgenommen hatte.
Auch die Fußballer wollen mal ein Bisschen Revolution spielen und es deshalb gibt's in zweieinhalb wahrscheinlich den Kicker/Schiri-Streik. Leider ist es das Wochenende, an dem OM gegen Paris spielen soll. On verra.

Gestern Abend auf dem Heimweg erste Bekanntschaft mit der viel beschworenen Kriminalität gemacht. Ich hatte meinen heißgeliebten Turnbeutel in den Fahhradkorb gelegt, wir hielten auf der Canebière, um eine Kollegin zu verabschieden, als sich ein Kalle um die 18 Jahre dachte, er wär ein Fuchs und versuchte, meine Tasche zu stiebitzen. Geistesgegenwärtig wie eh und je und ausgestattet mit einem Adlerauge, das seinesgleichen sucht, habe ich ihn aber gestellt und er gab mir ohne große Umstände das Ding zurück - wahrscheinlich eingeschüchtert von meinem germanischen Gardemaß.

Das wirkliche Highlight der letzten Tage war jedoch bei der Arbeit, ein Brief des Office français de protection des réfugiés et apatrides (Amt für den Schutz von Flüchtlingen und Staatenlosen, dort werden die Asylanträge gestellt). Er erhielt die Anerkennung des Flüchtlingsstatus für Mr. Youssef, der aus Darfur kommt und lange auf diese Antwort gewartet hat. Dadurch entsteht natürlich auch ein engerer Bezug zum Cimade-Team und es war toll zu sehen, dass sich die Arbeit manchmal dann doch lohnt. Solche Tage sind wie eine Belohnung für die Leute, die dort ihr Bestes geben und meist doch keinen Erfolg haben. Youssef hat es, glaube ich, noch gar nicht fassen können - aber man hat gemerkt, was für eine Last von ihm gefallen ist. Ich bin froh, das jetzt schon erlebt haben zu können und hoffe, es wird noch viele ähnliche Gelegenheiten geben.

Es grüßt der immer noch alles Besitzende

Schülieng

Sonntag, 5. Oktober 2008

I Got Game

Gestern vormittag durfte ich das erste Mal Bekanntschaft machen mit dem Mistral, der durch die Stadt fegte. Nachdem er sich etwas abgeschwächt hatte, traute ich mich auch aus dem Haus und ging auf die nächste Erkundungstour. Mein Ziel war die Corniche, die Küstenstraße, die im Zentrum beginnt, sich am Meer entlang bis zu den Stränden am Prado schlängelt und deren offizieller Name den John F. Kennedys trägt. Den ersten Teil bestritt ich mit dem Bus - das was zu sehen war, muss man selbst gesehen haben. Die Sonne verwandelt das Meer in eine glitzernde Oberfläche, die Segel der unzähligen Boote bilden ein eigenes Fahnenmeer und im Hintergrund thront ein Berg. Da gestern das Wetter dazu ausgezeichnet gepasst hat, waren zahlreiche Surfer an den Stränden unterwegs.
Ich bin aus dem Bus ausgestiegen und noch ein gutes Stück weiter gelaufen, vorbei an der alten Pferderennbahn bis hin zum Pointe Rouge, wo es auch einen kleinen Hafen gibt.
Dann habe ich mir den erstbesten Bus für die Rückfahrt geschnappt und war gespannt, wo er mich hinbringt. Antwort: Rond Point du Prado, das heißt keine drei Minuten vom Stade Vélodrome entfernt. Ich wusste, das OM an diesem Abend gegen den Tabellenfünften aus Caen spielt und konnte den ersten gezischten "Cherchez place?" noch widerstehen, nachdem ich einmal ums Stadion rumgelaufen war und mir der fünfte Kerl die gleiche Frage stellte, war es um mich geschehen und mein Geldbeutel um 30 € erleichtert.
Zwei Stunden vor Anpfiff und viel zu dünn angezogen setzte ich mich auf meinen Platz auf der Gegentribüne. Am Himmel war keine einzige Wolke zu sehen, der Mistral wurde seinem Ruf als Besen vollkommen gerecht.
Die Tortribünen sind in Marseille übrigens exklusiv reserviert für die Fanklubs und trotzdem voll. Auch hört man hier lieber Biggie und Lauryn Hill als Wolle Petry und Hermes House Band. Je weiter die Sonne unterging, desto mehr Maghrebiner strömten auf die Pläze neben mir, bis ich fast die letzte europäische Visage war. Die Spieler liefen zu Orffs O Fortuna ein, die Blocks grölten martialisch und schon nach zwei Minuten knipste Ben Arfa zum 1:0 für OM. Das wird hier im Allgemeinen so gefeiert, dass die versammelte Ultraschaft wie bekloppt die Tribüne runterrennt, am Zaun rüttelt und die Ordner auf den Plan ruft, die versuchen, für Ordnung zu sorgen. Nach drei, vier bengalischen Feuern war dann wieder Ruhe eingekehrt und mein Fokus wieder auf dem Spielfeld.
Leider bestätigte die schwarze Perle im Marseiller Tor nach knapp 20 Min. alle Vorurteile gegenüber afrikanischen Torwärten und ließ in gekonnter Manier den Ball vor die Füße des Gegners fallen, der kein Problem hatte einzuschieben.
Marseille war dann besser, ohne zu glänzen und erzielte in der 60. Min. den 2:1-Siegtreffer. Nach einer gelb-roten Karte in der 70. pfiff der Schiri, der hier genauso wie überall natürlich immer gegen die eigene Mannschaft pfeift, ab und nun galt es, so schnell wie möglich, das Stadion zu verlassen, denn die Ordner machen hier gleich kräftig Druck, seinen Platz zu verlassen, man sieht keine LaOla für die Fans o.Ä.
Daraufhin ging's zurück zur Metro, die ähnlich überfülllt war wie die Straßenbahn in Freiburg, als man dort noch Zuschauer hatte.
In drei Wochen geht's gegen Paris, DEN Erzfeind, das Stadion wird sicher ausverkauft sein und ich mir überlegen, dorthin zu gehen.
Heute war ich am Strand, habe ein wenig mein Viertel angeguckt und mich einmal wagemutig in den Verkehr als Fahrradfahrer gestürzt. Wieder war die Corniche dran, was die Gefahr nur vergrößert, weil ich mich nie so recht entscheiden kann, worauf ich nun achten soll: Verkehr oder Meer.

Bis jetzt ist ja nichts passiert, deshalb ein fröhliches Tschüssikowski

Freitag, 3. Oktober 2008

Hier ist alles fresh wie in Bangladesh, so langsam pendelt sich sowas wie ein Alltag ein, der so aussieht, dass ich morgens zur Arbeit fahre, versuche wachzubleiben, dort mich vormittags um meine Aufgaben als Postbeauftragter kümmere, um danach in der Cimade zu Mittag zu essen. Danach geht's je nach Wochentag unterschiedlich weiter - montags gibt es die sog. Permanence Juridique, während der ein Juristen-Team drei Stunden lang Rechtsberatung anbietet, die über den Asyl-Antrag hinausgeht; dienstags gibt es eine réunion der Cimade-Kampagne "Les Amoureux au ban public", die sich um französisch-ausländische Paare kümmert. Beides geht immer recht lange, so dass ich erst gegen 20 Uhr wieder zu Hause bin, kurz etwas essen, dann nach oben in mein Zimmer gehe und meist schon vor 23 Uhr einschlafe. Den freien Mittwoch habe ich ausgenutzt, um die hiesigen Einkaufsmöglichkeiten auszuprobieren. Resultat: Hier lässt sich Geld ausgeben (der fast tägliche Eis-Genuss schlägt so langsam aber auch zu Buche)! Donnerstag und Freitag sind immer etwas ruhiger, so dass ich meist schon gegen 15 Uhr die Cimade verlassen kann. Die freie Zeit nutze ich, um per pedes das Zentrum um die Canebière weiter zu erkunden, zum fünften Mal zu Mr. Miane bei der Bank zu rennen oder auch mal an und ins Meer zu gehen.
Bei der Arbeit ist immer noch die Post der Asylbewerber und alles was dazugehört mein Hauptaufgabengebiet. An sich nicht die spannendste Aufgabe, auf der anderen Seite ist es dort, wo ich in Kontakt mit den Leuten komme und auch mich mit manchen auch unterhalten kann. So gibt es Mr. Alleg, der täglich eine kleine Islam-Nachhilfestunde gibt, John, der meiner Kollegin Jacqueline versucht, Englisch beizubringen oder ich darf jemandem erklären, wo man in Paris denn nun den Nationalen Asylrechtsgerichtshof findet.
Der Ramadan ist seit Dienstag vorbei, die Leute trinken wieder Kaffee und essen Plätzchen, bedeutend mehr ist aber nicht los. Nächstes Wochenende geht es auf die nationale Vollversammlng der Cimade in Sète, wo ich hoffentlich ein größeren Einblick gewinnen kann.
Mein Projekt sollte eigentlich das Suchen und Finden eines Fußballvereins sein, doch das schiebe ich in gewohnt gekonnter Manier vor mir her. In drei Wochen spielt OM gegen Paris und die billigsten Karten kosten die Lächerlichkeit von 72 € und selbst gegen einen Worscht-Gegner wie Caen bekommt man Karten nur ab 32 €.

Aus Deutschland höre ich vom Hinter-den-Kulissen-Comeback von Energy-Ede - es geht also wieder vorwärts und der Uckermark-Hosenanzug ist nicht mehr allzu lange das Titeltier.

Adieu